Kurzkrimis

Besuch am Muttertag

Anton versorgt seine Mutter liebevoll, seit sie altersschwach geworden ist, nun schon seit etlichen Jahren. Seine beiden Schwestern melden sich nur einmal im Jahr, am Muttertag, um ihr zu gratulieren. Doch an diesem Muttertag geht es der Mutter so schlecht, dass sie nicht einmal mehr telefonieren kann.

Besuch am Muttertag

Der Anruf von Susanne

Antons Blick fiel durch die Glasscheibe in der Tür auf den Hinterkopf seiner Mutter. Wie immer saß sie in ihrem Sessel, dessen Rückenlehne so hoch war, dass Anton nur den Haarschopf der Mutter sehen konnte.
Das Telefon schrillte.
Nun kam der Augenblick, den er erwartet hatte.
Es war Muttertag.
Natürlich würden sich seine beiden Schwestern an so einem Tag melden. Wie lange hatten sie nichts von sich hören lassen? Vermutlich genau ein Jahr - seit dem letzten Muttertag. Warum sollten sie sich auch die Mühe machen und ihrer alten, kranken Mutter zur Hand gehen? Ein Erbe war nicht zu erwarten. Mutter hatte nur ihre Witwenrente, die nicht gerade üppig ausfiel.
In dieser Hinsicht waren seine Schwestern zuverlässig. Aber nur in dieser...
"Warum dauert das so lange, bis du dich meldest?", lautete Susannes schnippische Begrüßung. Sie war die älteste der drei Geschwister und führte sich auch gern so auf.
"Ich stehe nicht immer neben dem Telefon, entschuldige."
"Ruf bitte Mutter ans Telefon!"
"Tut mir leid, das geht nicht. Mutter ist krank."
"Aber sie wird doch telefonieren können."
Anton räusperte sich und antwortete: "Nein! Sie ist gerade eingeschlafen, worüber ich froh bin. Ruf doch in ein paar Tagen wieder an, dann geht es ihr sicher besser." Dabei wusste Anton ganz genau, dass Susanne schon am nächsten Tag ihre Mutter vergessen haben würde.
"Wofür überweise ich dir jeden Monat so viel Geld?", schnauzte Susanne. "Dafür sollst du medizinische Geräte kaufen und Mutter mit Medikamenten versorgen, die sie dringend braucht."
"Willst du mich kontrollieren?", schoss Anton scharf zurück. Es passte ihm nicht, dass seine Schwestern meinten, mit dem Geld, das sie per Dauerauftrag monatlich auf Mutters Konto überwiesen, sei ihrer Mutterliebe Genüge getan.
"Nein! Tut mir leid! Aber es gefällt mir nicht, dass sie krank ist", lenkte Susanne in einem Tonfall ein, der Anton stutzig machte. "Immerhin ist sie schon fünfundachtzig Jahre alt. Wer weiß, ob sie sich wieder erholt."
"Mach dir keine Sorgen", beruhigte Anton seine Schwester. "In meiner Obhut wird sie sich erholen."
"Du bist kein Arzt", kam es gestochen zurück.
Klick! Gespräch beendet.
Antons Blick fiel durch die Glasscheibe in der Tür auf Mutters Zimmer. Alles war unverändert. Er atmete tief durch.

Der Anruf von Maria

Doch leider sollte Antons Erleichterung nicht von langer Dauer sein, schon klingelte das Telefon erneut.
‚Natürlich’, dachte Anton. Seine jüngere Schwester würde auch mit ihrer Mutter sprechen wollen.
"Hallo Brüderchen", begrüßte sie Anton wie immer, als sei sie die Ältere.
Und Anton ärgerte sich wie immer darüber, weil er darin eine Anspielung sah. Maria hatte studiert und leitete jetzt eine große Firma, während er zu Hause saß und seine Mutter pflegte. Bis zu einer Berufsausbildung hatte er es nie geschafft. Aber musste Maria ihm das immer wieder vorhalten? Vermutlich ja! Das lag wohl in den Genen seiner weiblichen Anverwandten, denn Susanne tat es ihrer Schwester mit Wonne gleich.
"Gib mir doch bitte Mutter. Heute ist Muttertag, da muss ich ihr doch gratulieren."
"Das geht nicht, tut mir leid", wimmelte Anton ab.
Erlebte er gerade ein Deja-vu? Der Gesprächsverlauf war der gleiche wie vor wenigen Minuten mit Susanne. "Versorgst du Mutter auch gut von dem Geld, das ich ihr regelmäßig überweise? Wie willst du wissen, ob sie sich wieder erholt, weil Mutter doch schon so alt ist?"
Wie Anton diese Fragen hasste.
Und genau wie bei Susanne wurde auch dieses Gespräch mit dem Vorwurf, er sei kein Arzt, beendet.
"Egal", dachte sich Anton.
Der unangenehme Teil war beendet. Jetzt konnte der Fernsehabend beginnen. Immerhin hatte er sich einen großen HD-Flachbildschirm-Fernseher gekauft. Damit fühlte er sich vor der Glotze wie im Kino. Dazu eine Dolby-Surround-Anlage. Genüsslich betätigte er die Fernbedienung.

Unangemeldeter Besuch

Schon wieder hörte Anton ein Klingeln.
Erschrocken sprang er vom Sofa. Sein Blick ging durch die Glastür. Seine Mutter saß immer noch still da. Wer hatte geklingelt?
Wieder ein Schrillen.
Es war an der Haustür.
Anton erwartete keinen Besuch. Und der Zustand seiner Mutter ließ auch keinen Besuch zu. Also beschloss er, gar nicht an die Tür zu gehen.
Das Klingeln verstummte.
Anton wollte sich siegessicher wieder auf das Sofa legen, als er ein Geräusch an der Haustür hörte. Es war ein Schlüssel, der im Schloss umgedreht wurde. Jetzt wurde ihm richtig mulmig zumute. Wollte ihn jemand überfallen? Hatte seine Mutter irgendwann in ihrer Unachtsamkeit einem Fremden einen Schlüssel überlassen? Möglich wäre es.
Doch das Gesicht, das er dann sah, gehörte zu keinem Einbrecher, sondern zu Susanne. Und hinter Susanne tauchte Maria auf. Seine beiden Schwestern standen in der Diele und fixierten Anton mit bösem Blick.
"Heute ist Muttertag", erklärte Susanne. "Da lasse ich mich nicht einfach von meinem Brüderchen abwimmeln."
"Ihr wollt sie doch nicht zu Tode erschrecken", stammelte Anton hilflos.
"Sehen wir so fürchterlich aus?"
Wie zwei Furien betraten Susanne und Maria das Haus. Sofort sahen sie durch die Glastür ihre Mutter in ihrem Sessel sitzen.
"Warum erzählst du uns, sie liege krank im Bett?"
Mit eiligen Schritten eroberten die beiden Schwestern das Zimmer ihrer Mutter und riefen: "Mutter! Wir sind heute extra gekommen, um dich zum Muttertag zu..."
Der Schrei war schrill und laut.
Leere Augenhöhlen starrten die Schwestern an, lange, krumme Zähne zu einer lachenden Fratze verzogen, ledrige Haut an Wangen und Hals. Die Gestalt, die im Sessel saß, war schon seit Monaten tot.

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