Kurzkrimis

Der fremde Mann

Lisa läuft über Wiesen und Felder, genießt die Sonne und die vielen Blumen, bis sie merkt, dass sie sich verlaufen hat. Zum Glück hat sie ihre Puppe dabei. Da hält plötzlich ein Wagen neben ihr. Der Fahrer packt sie auf den Rücksitz und behauptet, sie nach Hause fahren zu wollen. Mitten im Wald hält das Auto an.

Der fremde Mann

Verlaufen

Lisa hatte sich verlaufen. Sie fürchtete sich. Die Sonne schien am blauen Himmel, die Blumen blühten in den schönsten Farben. Sie hatte nicht bemerkt, wie sie sich immer mehr von zuhause entfernte. Zu schön war es, durch den warmen Wind zu laufen, sich im Kreis zu drehen, inmitten der vielen Blumen zu hüpfen und zu tanzen. Ihre Puppe Erna hielt sie dabei immer ganz fest im Arm. Lisa ließ ihre Puppe nie aus den Augen. Genauso, wie ihre Mutter immer Angst um Lisa hatte, war Lisa immer um ihre Erna besorgt.
Lisa verließ das große Feld und gelangte an eine lange Straße. Ein Blick nach rechts, ein Blick nach links. Lisa wusste nicht mehr, wo sie war. Sie entschied sich, nach rechts zu gehen, weil sie dort die Sonne sehen konnte, die langsam immer roter wurde. Hurtig marschierte sie los, von Müdigkeit keine Spur.
Lisa bekam ganz große Augen, als ein Auto direkt neben ihr stehen blieb. Wie sagte ihre Mutter immer: "Geh niemals mit einem Fremden."
Da öffnete sich die Beifahrertür.

Wo ist Lisa?

Martina deckte liebevoll den Tisch für zwei. Heute Abend war sie mit ihrer Tochter allein. Ihren Freund Moritz hatte sie in die Wüste geschickt. Seitdem fühlte sie sich frei und gut.
"Lisa", rief sie in Richtung Garten. "Komm zum Abendessen!"
Doch Lisa kam nicht.
"Lisa?" Martina stutzte. Ihre Tochter war sonst immer gehorsam.
Nichts.
"Lisa!" Nun ging Martinas Rufen in ein hysterisches Kreischen über. Sie schaute aus dem Fenster und stellte fest, dass ihre Tochter nicht mehr im Sandkasten saß und spielte.
Mitsamt ihrer Puppe Erna war sie verschwunden.

Der Fremde

Lisa starrte mit großen Augen auf den Mann. Er lächelte sie an. Eigentlich sah er gar nicht gefährlich aus. Doch dann streckte er ihr die Hand entgegen. Erschrocken wich Lisa zurück.
"Du musst keine Angst vor mir haben, Lisa", sagte er.
Er kannte ihren Namen. Jetzt war Lisa völlig durcheinander.
"Was tust du hier so allein auf der Landstraße?"
Lisa druckste herum, bis sie endlich zugab: "Meine Mama hat mir gesagt, dass ich nicht mit fremden Männern sprechen darf."
"Aber Lisa! Ich bin doch kein Fremder", beteuerte der Mann. "Erkennst du mich denn nicht mehr?"
Lisa schüttelte den Kopf.
Der Mann stieg aus, trat auf die Seite zu Lisa und öffnete dort die Tür zum Fond des Wagens.
"Ich bringe dich jetzt nach Hause. Deine Mutter wird sich um dich sorgen."
Schon schob er das Mädchen in den Wagen und schlug die Tür zu.

Hilfsbereite Nachbarschaft

Das ganze Dorf war auf den Beinen. Die Sonne sank hinter den Bäumen immer tiefer und tiefer und färbte sich langsam in ein Dunkelrot. Lisas Name ertönte in allen Stimmlagen, aus allen Winkeln des Dorfes, aus dem umliegenden Wald und über die Felder. Mit Stöcken tasteten die Suchtrupps den bewachsenen Boden ab, um das Kind zu finden, sollte es bewusstlos sein.
Aber von Lisa keine Spur.
Die Polizei hatte eine Hundestaffel im Einsatz. Schäferhunde ließen ihr Bellen und Jaulen ertönen.
Keine Lisa.
Sogar ein Hubschrauber flog über das Gelände. Gelegentlich war das Rascheln und Knistern eines Funkgerätes der Polizei zu hören.
Aber ohne Ergebnis.
"Das kommt davon, wenn man ständig andere Männer ins Haus lässt", schimpfte Elfriede, Martinas Nachbarin, so laut, dass der Polizeibeamte es hören konnte.
"Heißt das, dass Sie häufiger Ihren Partner wechseln?", fragte er.
Martina schaute den Beamten trotzig an und fragte zurück: "Ist das verboten, nur weil ich Mutter einer Tochter bin?"
"Nein! Natürlich nicht! Es könnte aber dazu führen, dass Ihre Tochter unvorsichtig wird, weil..." Der Polizist druckste.
"...ich ihr kein gutes Beispiel bin", beendete Martina den Satz.
Der Polizeibeamte nickte und fügte an: "Deshalb brauche ich von Ihnen eine Liste mit den Namen der Männer, die mit Ihnen befreundet waren."
"Jetzt gehen Sie aber zu weit", rief Martina aus.
"Es tut mir leid! Aber wir können nicht ausschließen, dass einer dieser Männer sich an Lisa erinnert und sie mitgenommen hat."

Das Auto hält an

Lisa hielt ihre Puppe Erna fest umklammert. Während der ganzen Fahrt sprach sie kein Wort. Auch der Mann sagte nichts. Er schaute nur immer wieder in den Rückspiegel.
Sie fuhren durch einen Wald. Dort war es finster.
Plötzlich wurde das Auto immer langsamer, bis es schließlich stehen blieb.
"So was! Mein Auto will nicht mehr weiterfahren", sagte der Mann und lachte. "Dann werde ich es mal wieder aufmuntern."
Lisa spürte Angst.
"Zum Glück habe ich eine Kindersicherung in meinem Wagen", sprach der Mann weiter. "Sonst würdest du mir noch davonlaufen."

Die Suche geht weiter

Die Dunkelheit brach allmählich herein. Die Menschen rüsteten sich mit Taschenlampen aus, um etwas sehen zu können. Niemand dachte daran, die Suche abzubrechen.
Immer wieder riefen sie Lisas Namen. Unvermindert tatkräftig schritten sie durch die Wälder und über die Felder.
Der Hubschrauber war inzwischen verschwunden. Doch die Laute der Polizeihunde verrieten, dass die Hundestaffel noch immer nach Lisa suchte. Sogar die Presse war inzwischen eingetroffen und versuchte, sich mit Martina über ihren Zustand zu unterhalten. Doch die besorgte Mutter wich den Journalisten aus.
Plötzlich kam ein Auto durch die Dorfstraße gerollt. Es war eine große, schwarze Limousine.
Die Beifahrertür ging auf, und die Puppe Erna fiel heraus.
Martina brach bei diesem Anblick zusammen.
Doch dann hörte sie ein vertrautes "Mammi, Mammi", dann ein Rascheln und ein Rumpeln, und Lisa stieg aus dem Wagen.
Alle Dorfbewohner waren starr vor Erstaunen.
Die Polizei stürmte die Fahrerseite des Wagens und zog einen Mann heraus, den Martina nur zu gut kannte.
"Moritz!", schrie sie. "Was hast du getan?"
"Ich habe dir Lisa zurückgebracht. Sie hatte sich verlaufen. Als ich sie an der Landstraße sah, wollte ich sie auf keinen Fall sich selbst überlassen."
"Aber warum hast du so lange gebraucht, um sie mir zurückzubringen?"
Moritz lachte verlegen und erklärte: "Mitten im Wald hatte mein Wagen eine Panne."

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