Kurzkrimis

Weihnachtsboykott

Kurz vor Weihnachten verschwindet Ella spurlos. Ihren Freundinnen bleibt keine Zeit für Trauer, sie alle schweben in großer Gefahr. Weihnachten steht vor der Tür, ein Fest, bei dem die Emotionen vieler Menschen verrücktspielen. Sie müssen sich vorsehen, damit es nicht noch mehr Opfer gibt.

Weihnachtsboykott

Wo ist Ella?

Das Entsetzen war groß!
Ella war verschwunden. Ausgerechnet sie, die Vernünftigste unter ihnen, die sie immer gewarnt hatte, nicht so leichtsinnig zu sein. Gerade in den Tagen vor Weihnachten sei es am gefährlichsten. Da würden die Emotionen hochkochen. Eine Zeit, in der sie besonders auf sich aufpassen mussten. Und nun war ausgerechnet sie verschwunden.
Aus der Ferne hörten sie die Klänge eines Weihnachtsliedes: "Stille Nacht, heilige Nacht". Das passte so gar nicht in ihre Stimmung, denn es war weder Nacht, noch war irgendetwas Heiliges daran, dass Ella spurlos verschwunden war.
Myriane ging einige Schritte hin und her und überlegte. Sie wollte nicht wahrhaben, dass Ella etwas zugestoßen sein sollte. Die Vorstellung, was sie gerade durchmachte, brachte sie fast und den Verstand. Und nicht nur das. Sie alle waren in Gefahr. Es konnte jede von ihnen treffen.
Tina bat sie, sich endlich hinzusetzen. Das Getrippel machte sie nervös. Auch sie wirkte verändert. Ihre sonst so lustige Art war verschwunden. Ernst und traurig schaute sie drein.
Die Stimmung unter ihnen war angespannt. Sie hatten alle Angst um ihr Leben und redeten durcheinander, sodass niemand mehr verstanden werden konnte.
"Wir machen es nicht besser, wenn wir jetzt vor lauter Panik den Kopf verlieren", sprach Franka endlich ein Machtwort. Alle verstummten. "Es liegt doch an uns, wie es weitergeht. Wenn wir mit Traugott sprechen..."
"Ach Blödsinn", funkte Myriane dazwischen. "Für Traugott geht es doch nur ums Geld. Ihm ist es egal, wie es uns dabei geht. Hauptsache, seine Kasse klingelt."
"Er ist der Einzige, mit dem wir sprechen können", hielt Franka dagegen. Doch Myriane ließ sich nicht überzeugen. Sie kreischte: "Er wird uns nicht helfen. Wir sollten zusehen, dass wir von hier verschwinden."
Vivienne, die Älteste unter ihnen, ging auf Myriane zu und redete leise auf sie ein. Alle anderen schauten den beiden neugierig zu und staunten, wie es Vivienne gelang, die aufgebrachte Myriane wieder zur Vernunft zu bekommen.
"Ich schlage vor, dass wir warten, bis es dunkel wird, dann schleichen wir uns durch den Hinterausgang und machen uns im Schutz der Dunkelheit auf und davon", meinte die Älteste unter ihnen nach einer Weile. "Myriane hat recht. Das ist die einzige Möglichkeit, die uns bleibt."
"Wenn Traugott uns dabei erwischt, dann geht es uns allen an den Kragen", wimmerte Tina.
"Deshalb müssen wir aufpassen, dass wir ihm nicht in die Arme laufen."
Wieder drangen die Klänge des Liedes "Stille Nacht, heilige Nacht" bis zu ihnen durch. Das bekräftigte sie in ihrem Entschluss.

Die Flucht

In der Nacht machten sie sich bereit zum Aufbruch. Die Aufregung war groß, die Vorfreude ebenso. Keine von ihnen wusste, was sie erwarten würde. Umso angespannter fühlten sie sich. Vivienne ging ihnen voraus zur Hintertür, die sie nach Traugotts Anweisung nur im äußersten Notfall benutzen durften. Dieser Notfall war nun eingetroffen.
Vivienne drehte den Schlüssel im Schloss um und öffnete die Tür einen schmalen Spalt, um sich abzusichern, dass niemand hinter dem Haus war.
Alles war ruhig. Die Nacht war kalt und klar.
Vivienne setzte einen Schritt vor die Tür, Myriane folgte ihr, dann drängten sich Tina und Franka hindurch. Der Hinterhof wirkte düster und gespenstisch. Der Mond kam hinter den Wolken hervor und tauchte die hässliche Umgebung in fahles Licht. Alte Autowracks standen dort und rosteten vor sich hin. Ein verbeulter Wohnwagen war in einer Ecke abgestellt und versperrte die Sicht zur Straße, die sie erreichen mussten.
Plötzlich stieß Tina einen Schrei aus.
"Psss!", "Psss!", "Psss!" zischte es von drei Seiten. "Kannst du nicht einmal ruhig sein?", herrschte Vivienne die Jüngste unter ihnen an.
"Sieh doch, da!", meinte Tina mit weinerlicher Stimme.
Alle schauten in die angezeigte Richtung. Da sahen sie, was Tina so erschreckt hatte: In einem alten Schuppen, dessen Tür weit offenstand, lag Ellas nackte Leiche.
Wie versteinert standen sie im Hof und starrten auf den geschundenen Körper.
Plötzlich hörten sie ein Knarren und ein Husten. Eine Tür, die für die Beobachterinnen im Verborgenen lag, öffnete sich und Traugotts hagere Gestalt tauchte im bleichen Mondlicht auf. Er schwankte und führte Selbstgespräche. Zum Glück schaute er sich nicht um, ob ihn vielleicht jemand beobachtete. Dafür fühlte er sich viel zu sicher. Er packte Ellas Körper, warf ihn über seine Schulter und verschwand damit in der undurchdringlichen Schwärze des Schuppens.

Ein neuer Plan muss her

Vor Entsetzen zitterten Vivienne die Beine. Wortlos kehrte sie um. Die anderen folgten ihr. Keine von ihnen war in der Lage zu protestieren.
Es dauerte eine Weile, bis Vivienne als Erste ihre Sprache wiedergefunden hatte: "Es ist also Traugott selbst, der Hand an Ella gelegt hat. Dabei dachte ich immer noch, er wäre unser Beschützer."
"Habe ich dir nicht gleich gesagt, dass es Traugott nur ums Geld geht?", trumpfte Myriane auf. "Dem ist unser Leben scheißegal. Und vor Weihnachten dreht Traugott doch völlig am Rad. War noch jedes Jahr so."
"Dann bleibt uns keine Wahl: Wir müssen zurückschlagen", beschloss Vivienne und schmiedete eifrig einen Plan, dem alle beherzt zustimmten.
Mitten in ihren Planungen hörten sie ein Geräusch an der Tür.
"Es ist soweit", flüsterte Vivienne.
Ehrfürchtiges Nicken war die Antwort. Sie alle wussten, was das zu bedeuten hatte.
Die Tür ging auf und Traugotts Silhouette tauchte auf. In seiner Hand hielt er eine Axt.
Vivienne, Myriane, Tina und Franka vergaßen zu atmen vor Schreck. Der Anblick, wie sich der betrunkene Mann mit dem gefährlichen Instrument in der Hand ihnen näherte, verursachte ihnen Gänsehaut.
Doch jetzt durften sie auf keinen Fall die Nerven verlieren. Traugott war unzurechnungsfähig. Wenn sie nicht aufpassten, waren sie alle tot.
"Wo seid ihr nur? Glaubt ihr, ihr könnt mir entkommen?" Er lachte gehässig. "Kommt nur heraus zu eurem Herrn und Gebieter. Oder habt ihr vergessen, wo ihr herkommt?"
Absolute Stille.
"Scheiße! Ich zeige euch mal, wo hier der Hammer hängt." Mit voller Wucht ließ er die Axt auf den hölzernen Boden niedersausen. Dabei schlug der spitze Keil so tief ein, dass es ihm nicht mehr gelang, ihn herauszuziehen.

Der Zeitpunkt ist gekommen

Das war der richtige Zeitpunkt. Mit lautem Geschnatter stürmten Myriane, Tina, Franka und Vivienne aus ihren Verstecken und hackten und pickten mit allen ihren zur Verfügung stehenden Mitteln auf den Mann ein, der immer hilfloser wurde, bis er blutüberströmt am Boden lag.
"Ihr undankbares Pack", schnaufte Traugott noch mit letzter Kraft. "Was glaubt ihr, warum ich euch das ganze Jahr mäste. Doch nur für Weihnachten. Was ist ein Weihnachten ohne Weihnachtsgans?" Dann schloss er die Augen für immer.
Vivienne schüttelte ihre weißen Federn aus, wischte sich ihren blutverschmierten Schnabel sauber und meinte zufrieden: "Diese Tat sollten wir überall verkünden. Nur so gelingt es uns, auf der ganzen Welt das Weihnachtsfest zu boykottieren."

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