Es ist Heiligabend. Ein junger Mann liegt tot in seiner Wohnung. Seine verzweifelte Ehefrau hat ihn gefunden, als sie von der Arbeit nach Hause kam. Es gibt weder Einbruchspuren noch Spuren eines Kampfes oder sichtbare Verletzungen. Wird es der Polizei dennoch gelingen, den Täter zu überführen?
Das Zimmer wirkte aufgeräumt. Alles war an seinem Platz. Der Adventskranz,
die Weihnachtskerzen, der Weihnachtsbaum. Nichts hinterließ den Eindruck
eines Kampfes. Und doch lag inmitten dieser Ordnung und Sauberkeit ein toter
Mann.
Kommissar Holm spazierte durch den Raum, trat ans Fenster, warf einen Blick
hinaus, kehrte wieder um. Mit verweinten Augen saß die Ehefrau des Toten
am Küchentisch. Zwischen gerahmten Fotos von Hunden und Katzen hing der
Adventskalender hinter ihr an der Wand. Nur ein Türchen war noch geschlossen,
und zwar der 24. Dezember.
Kommissar Holm starrte lange auf den Kalender, bis er sich mit einem zufriedenen
Kopfnicken wieder der Frau zuwandte: "Sie sagten, die Wohnungstür
war verschlossen, als Sie von der Arbeit nach Hause kamen?"
Die Frau nickte.
"Meine Kollegen von der Spurensicherung haben keine Einbruchspuren entdeckt.
Also können wir ein gewaltsames Eindringen ausschließen."
Die Frau schaute den Kommissar nur an, ohne etwas zu sagen.
Kommissar Holm sah große Angst in ihren Augen.
"Welcher Arbeit gehen Sie nach?"
"Ich bin Krankenschwester."
"Das erklärt wohl, dass Sie am 24. Dezember arbeiten müssen",
sagte er laut, was die Ehefrau mit einem Kopfnicken bestätigte.
"Haben Sie heute länger gearbeitet, weil die Kranken an Heiligabend
mehr Betreuung brauchen als sonst?"
Wieder ein Kopfnicken.
Kommissar Holm nickte zufrieden. Er trat ans Fenster, schaute hinaus und kehrte
zu dem Toten in der Küche zurück. Er lag da, als schliefe er. Der
Gerichtsmediziner erklärte: "Keine Abwehrverletzungen, nichts. Er
sieht aus, als sei er einfach tot umgefallen."
"Wie alt ist Ihr Mann?", fragte der Kommissar die Ehefrau.
"Fünfunddreißig Jahre."
"Zu jung für einen natürlichen Tod", erkannte er sofort.
Er trat an die Spüle, öffnete das untere Fach der Schrankreihe, wo
sich der Mülleimer befand. Lange hielt er seinen Blick auf den Eimer gerichtet,
bis er mit einem Kopfnicken den Schrank schloss und sich weiter umsah. Er steuerte
das Wohnzimmer an. Ein antiker Sekretär erregte seine Aufmerksamkeit. Papiere
türmten sich darauf.
Plötzlich erwachte die Ehefrau aus ihrer Lethargie. Sie folgte Kommissar
Holm an den Sekretär, nahm die Unterlagen und versteckte sie in einem Schubfach.
Der Kommissar ließ sie gewähren. Er ging weiter, gelangte ins Badezimmer.
Auch dort sah er sich eine Weile um, bis er in die Küche zurückkehrte
und fragte: "Haben Sie ein Herzleiden?"
"Ja! Ich leide an supraventrikulärer Tachykardie."
"Also an Herzrhythmusstörungen", übersetzte Kommissar
Holm.
Die Augen der Ehefrau wurden groß vor Erstaunen.
"Sie sind also heute von der Arbeit nach Hause gekommen, fanden Ihren
Mann tot vor und riefen ohne Zögern bei der Polizei an?", vergewisserte
sich Kommissar Holm noch einmal.
"Ja!"
"Um wie viel Uhr war das?"
"Um siebzehn Uhr."
Kommissar Holm warf einen fragenden Blick auf den Gerichtsmediziner, der antwortete:
"Der Tod trat zwischen vierzehn und sechzehn Uhr ein."
Kommissar Holm ging zu dem Adventskalender, stellte sich ganz nah davor und
besah ihn sich von allen Seiten. Er tippte zart gegen die einzige noch verschlossene
Tür.
Klack, schon sprang sie auf.
"Wie ist das möglich?", rief die Ehefrau aus. "Wir haben
jeden Abend nach Feierabend ein Türchen geöffnet. Aber die anderen
waren alle so fest verschlossen, dass wir sie regelrecht aufreißen mussten."
"Das Kind im Manne." Kommissar Holm lächelte. "Das 24.
Türchen war schon immer das interessanteste. Und Sie kommen ausgerechnet
an dem Tag später nach Hause."
Die Ehefrau stimmte seiner Vermutung zu.
"Was befand sich hinter den Türchen?", fragte der Kommissar.
"Schokolade."
"Und wer aß diese Schokolade?"
"Mal mein Mann, mal ich", antwortete die Ehefrau.
Kommissar Holm setzte ein undurchschaubares Grinsen auf, bevor er fragte: "Kennen
Sie die elementare Kausalitätskette?"
"Nein! Was ist das?"
"Gier, Gelegenheit, Mord."
Die Ehefrau ließ sich auf den Stuhl sinken. Ihr Gesicht war kreideweiß.
"Wie kommen Sie darauf?"
"Sie können keine Schokolade essen", erklärte Kommissar
Holm. "Sie leiden neben Herzrhythmusstörungen auch an Diabetes. Ich
habe im Bad Ihr Spritzenbesteck gesehen."
"Ja und? Dann hat mein Mann die Schokolade gegessen."
"Stimmt! Aber schauen Sie sich mal den Adventskalender genauer an!"
Er hob den Kalender vom Nagel an der Wand und drehte die Rückseite nach
vorn. Deutlich stach ein Loch ins Auge und zwar genau an der Stelle, an der
sich das 24. Türchen befand.
"Sie haben die Schokolade mit Ihrer Insulinspritze präpariert."
"Das ist nicht wahr."
"Ich habe Ihre Herztabletten nachgezählt", sprach der Kommissar
unbeirrt weiter. "Sie haben erst gestern ein Rezept eingelöst, das
Rezept fand ich in Ihrem Badezimmer. Und heute fehlen über zwanzig Tabletten.
Ich habe die weggeworfene Tablettenpackung in ihrem Mülleimer entdeckt."
Die Ehefrau sank in sich zusammen.
"Als Krankenschwester wissen Sie, wie Sie den Wirkstoff Digitalis verflüssigen
und in einer Spritze aufziehen können. Für ein gesundes Herz ist Digitalis
in dieser Dosis immer tödlich."
Der Kommissar trat ans Fenster und fügte hinzu: "Unten vor dem Haus
steht schon lange ein junger Mann, der ständig Ihre Wohnung beobachtet.
Sicherlich haben Sie Ihrem Geliebten gesagt, dass er warten soll, bis die Polizei
fort ist, bevor Sie mit ihm in Ruhe Weihnachten feiern würden."
Die Ehefrau begann zu weinen.
"Und die Versicherung, deren Police Sie nicht schnell genug in Ihrem Sekretär
verstecken konnten, tritt nur im Todesfall Ihres Mannes ein und beträgt
eine Million Euro."
Die Ehefrau gab jeden Widerstand auf. "Wie sind Sie so schnell dahintergekommen?",
fragte sie mit weinerlicher Stimme.
"Tja, wissen Sie, meine Liebe, wie Sie wohl bemerkt haben, ist mein Name
Holm. Ich bin ein Ur-Ur-Urenkel des berühmten Sherlock Holmes. Wer mich
überlisten will, muss sich schon etwas Besseres einfallen lassen."
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