Kurzkrimis

Herbstdepressionen

Nach einem heftigen Herbststurm wird eine Leiche zwischen umgefallenen Bäumen gefunden. Es ist der reiche Geschäftsmann Ernst Böker. Die Ehefrau ist felsenfest davon überzeugt, dass ihr Mann Selbstmord begangen hat. Die Polizei ist sich da nicht so sicher. Sie untersucht den Fall und findet erste Hinweise.

Herbstdepressionen

Die Leiche

Zwischen umgefallenen Bäumen und heruntergebrochenen Ästen lag die Leiche eines Mannes. Seine Anzugjacke war zerrissen. Darunter trug er eine Jeanshose, die scheinbar unversehrt war. Seine Beine standen in einem unnatürlichen Winkel vom Körper ab.
Kommissar Winter ging von einer Seite zur anderen, um sich jedes Detail des Toten einzuprägen. Eine Wunde klaffte an der Schläfe. Ein Blutrinnsal lief über das Gesicht, das teilweise im Schlamm steckte. Direkt neben dem Toten lag ein dicker Ast, an dem Blut klebte.
Der Kollege der Spurensicherung packte den Ast ein, um ihn im Labor zu untersuchen.
Kommissar Winter zog sich Latexhandschuhe über und griff in die Gesäßtasche des Toten. Er zog eine kleine Ledermappe heraus. Seine Überraschung war groß, als er den Namen las.
"Kollege Schmoller", rief er.
Der Gerufene eilte herbei und fragte: "Und? Was entdeckt?"
"Rate mal, wen wir hier vor uns haben!"
Schmoller schaute auf den Toten und zuckte mit den Schultern.
"Das ist Ernst Böker. Sagt dir der Name etwas?"
"Klar! Wer kennt Ernst Böker nicht. Er ist doch der letzte aus der Böker-Dynastie", staunte Schmoller. "Böker war der Chef einer Supermarktkette."
"Stimmt genau! Was sucht ein erfolgreicher Geschäftsmann zwischen umgefallenen Bäumen?"
"Den Tod?", rätselte Schmoller.
"Den hat er gefunden."

Die Ehefrau des Toten

Plötzlich hörten sie ein lautes Weinen. Die beiden Kommissare schauten sich um und sahen eine Frau, die sich mit aller Gewalt dem Fundort der Leiche nähern wollte.
"Das ist seine Frau", erklärte Schmoller auf Kommissar Winters fragendes Gesicht hin.
"Sie kann ruhig herkommen", beschloss Winter. Als Schmoller nicht darauf reagierte, fügte er an: "Sie kann ihren Mann identifizieren."
Das Absperrband wurde angehoben. Die weinende Frau trat darunter hindurch und näherte sich dem Toten.
"Frau Böker!" Kommissar Winter stellte sich ihr in den Weg.
Die Frau schaute ihn mit verweinten Augen an.
"Wir bitten Sie, uns zu sagen, ob es sich bei dem Toten um ihren Mann handelt", wies Kommissar Winter sie an. "Außerdem bitten wir Sie, nichts am Tatort zu berühren."
Die Frau nickte und besah sich den am Boden liegenden Mann.
"Das ist Ernst", jammerte sie los. Sie wandte sich ab und lamentierte weiter: "Warum hat er das getan?"
"Was?"
"Sich umgebracht."
"Selbstmord?" Kommissar Winter staunte. "Warum sollte sich ein Mann wie Ernst Böker selbst umbringen?"
"Er litt an schweren Herbstdepressionen. Jedes Jahr dasselbe. Doch dieses Jahr war es ganz besonders schlimm."
"Wie soll er das gemacht haben?", zweifelte Winter weiter. "Sich selbst mit dem Ast an den Kopf schlagen, bis er tot umfällt?"
Frau Böker funkelte Winter böse an und erklärte: "Der letzte Herbststurm war besonders heftig. Wir haben alle damit gerechnet, dass unser Buchenhain ihn nicht überstehen würde. Es war ohnehin nur noch eine Frage der Zeit, bis die alten Bäume umfallen. Und Ernst hat das ausgenutzt."
"Sie glauben also, Ihr Mann hat sich unter einen umstürzenden Baum gestellt?"
Frau Böker nickte.

Ein letzter Wille

Ein Mann in weißem Schutzanzug mit einem Koffer in der Hand trat auf Kommissar Winter zu und stellte sich als Gerichtsmediziner vor.
Frau Böker beobachtete die beiden. Doch als der Arzt sich dem Toten zuwenden wollte, versperrte sie ihm den Weg und fragte: "Darf ich bitte eine Minute mit meinem Mann allein sein?"
"Tut mir leid", lehnte der Gerichtsmediziner ab.
"Bitte! Nur eine Minute!"
"Das geht nicht."
"Nur eine halbe Minute!"
Kommissar Winter trat hinzu, um dem Gerichtsmediziner beizustehen. Er nahm Frau Böker am Arm und führte sie vom Tatort weg.
"Warum darf ich nicht mit ihm allein sein?", begehrte die Frau auf.
"Das können Sie in der Leichenhalle. Aber hier ist ein Tatort. Hier darf nichts verändert werden. Wir müssen die Spuren sichern, solange sie noch frisch sind."
Nur widerwillig entfernte sich die trauernde Witwe.
"Können Sie uns etwas über den Todeszeitpunkt sagen?", fragte Kommissar Winter den Gerichtsmediziner.
"Ja!", antwortete der Arzt. "Die Totenstarre ist noch nicht vollkommen eingetreten. Hinzu kommt die Körpertemperatur von 26 Grad bei einer kühlen Außentemperatur. Daraus errechne ich, dass der Mann vor acht bis zwölf Stunden gestorben ist."
Kommissar Schmoller trat hinzu und berichtete: "Ich habe gerade mit dem Meteorologen gesprochen. Der Sturm Ursula, der vermutlich für das Umstürzen der Bäume verantwortlich gemacht werden kann, ist seit vierundzwanzig Stunden vorbei."
"Also hat sich unser Mann nicht unter den Baum gestellt und gewartet, dass ihm ein Ast auf den Kopf fällt", kombinierte Winter.

Die Überraschung

"Kann mir jemand helfen?", ertönte die Stimme des Gerichtsmediziners.
Beide Kommissare boten ihre Hilfe an.
"Ich möchte den Toten umdrehen, damit ich anhand seiner Totenflecken erkennen kann, ob er seit seinem Tod bewegt worden ist."
Mit einem Ruck lag der Tote auf dem Rücken.
Was nun zum Vorschein kam, weckte großes Interesse bei den beiden Kommissaren. Ein Brief hatte unter dem Toten gelegen, der nun von Schlamm bedeckt im Dreck steckte.
"Deshalb wollte Frau Böker mit ihrem Mann allein sein..." Winter öffnete den Brief. Er stammte von Ernst Bökers Anwalt. Auch der Inhalt war leicht zu deuten. Ernst Böker wollte die Scheidung einreichen.
Beide Kommissare blickten gleichzeitig auf die Frau des Toten.
"Da haben wir das Motiv!", schlussfolgerte Winter.
"Wissen wir, ob es einen Ehevertrag gibt?", fragte Schmoller.
"Ich würde sagen, Ernst Bökers Zustand ist Antwort genug."

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