Kurzkrimis

Mord verjährt nicht

Hilde Kort ist schon seit zwanzig Jahren tot - damals wurde sie grausam ermordet. Der Mord hatte niemals aufgeklärt werden können. Doch nun steht sie plötzlich vor Kommissar Klein. Der ist ein echter Steinbock, den der Fall von damals niemals losgelassen hat. Wird er ihn nun endlich lösen können?

Mord verjährt nicht

Fata Morgana

Seit zwanzig Jahren verfolgt ihn dieses Gesicht. In seinen Träumen, in seinen schlaflosen Nächten, während der Arbeit, während der Freizeit. Kein Tag vergeht ohne das Gesicht dieser Frau, die vor zwanzig Jahren grausam ermordet wurde.
Und heute steht sie leibhaftig vor ihm. Lebendig und schön - als sei sie keinen Tag älter geworden, als sei kein brutaler Mörder über sie hergefallen und habe ihr das Gesicht zerschlagen, als sei nie etwas geschehen.
Kommissar Klein reibt sich über die Augen. Er kann nicht glauben, was er da sieht. Eine Fata Morgana?
Der Mordfall Hilde Kort war der erste Fall seiner Laufbahn als Kriminalkommissar und auch der erste und letzte Fall, den er bis heute nicht aufklären konnte.
Kommissar Klein ist ein Pedant, wenn es um seine Arbeit als Kriminaler geht. Umso schwerer lastet das Gefühl auf ihm, im Fall Hilde Kort versagt zu haben. All die Jahre ist es ihm nicht gelungen, einen Täter zu überführen. Selbst die neue Errungenschaft der DNA-Analyse brachte keinen Durchbruch. Und trotzdem gibt er nicht auf. Seine Kollegen belächeln ihn, nennen ihn den typischen Steinbock, der niemals locker lässt. Und da haben sie recht. Er lässt nicht locker. Die Akte von Hilde Kort liegt immer noch auf seinem Schreibtisch - griffbereit für den Fall, dass plötzlich neue Hinweise auftauchen.
Und jetzt steht Hilde Kort plötzlich vor ihm. Auferstanden von den Toten?
"Sind Sie Kommissar Klein?", fragt sie.
Kommissar Klein kann nicht sprechen. Er bringt nur ein Nicken zustande.
Plötzlich lacht die Frau und sagt: "Ich sehe Ihnen an, dass Sie mich erkannt haben."
Kommissar Klein hat Mühe, nicht vom Stuhl zu fallen. Vor ihm steht ein Geist, der Scherze treibt.

Helene Kort

"Ich heiße Helene Kort. Ich bin die Tochter der ermordeten Hilde Kort und habe schon von mehreren Seiten gehört, dass ich meiner Mutter sehr ähnlich sehe."
Endlich kann Kommissar Klein ausatmen. Dieser Satz bringt Klarheit in seine verwirrten Gedanken. Wie konnte er auch annehmen, Hilde Kort sei von den Toten auferstanden?
"Warum sind Sie hier?", fragt er und hat Mühe seine Neugier zu unterdrücken. Sollte es tatsächlich neue Hinweise geben?
"Meine Mutter ist vor zwanzig Jahren ermordet worden", beginnt Helene Kort zu sprechen. "Damals war ich gerade zwei Jahre alt."
"Ich weiß." Kommissar Klein lächelt säuerlich.
"Nun bin ich schwanger. Deshalb habe ich meine Babykiste durchgesehen, ob ich noch etwas davon für mein Kind gebrauchen kann." Helene Kort lacht verlegen.
Kommissar Klein grübelt. Er kann sich an keine Babykiste erinnern. Langsam wird es wirklich interessant.
"Und da habe ich etwas entdeckt, das Ihnen weiterhelfen könnte." Sie zieht ein kleines Büchlein aus ihrer Tasche. "Es ist das Tagebuch meiner Mutter."
"Das gibt es doch nicht." Kommissar Klein greift gierig nach dem Notizbuch. "Davon habe ich all die Jahre nichts gewusst. Wo war dieses Tagebuch versteckt?"
"Ich habe es in der Babykiste gefunden. Zwischen alten Windeln und Strampelhöschen."
"Und wo war die Babykiste?"
"Bei meinem Nachbarn, der mich großzügigerweise adoptiert und aufgezogen hat", antwortet Helene Kort. "Er hat mich und diese Kiste noch gleich in der Mordnacht zu sich genommen."
Kommissar Klein erinnert sich an den Nachbarn. Er hat den Mann als liebevoll und fürsorglich in Erinnerung.
"Ich weiß, dass Sie meinen leiblichen Vater lange verdächtigt haben", spricht Helene weiter. "Er ist an dem Verdacht zerbrochen. Er war unschuldig."
"Was macht Sie so sicher?"
"Das Tagebuch meiner Mutter. Darin steht, vor wem sie sich gefürchtet hat."
"Und wer ist das?"

Die lang ersehnte Auflösung

Helenes Gesichtsfarbe wird blass. Sie ringt mit sich, bis sie flüstert: "Der Mann, der mich großgezogen hat."
Kommissar Klein staunt. Der Nachbar? Dieser fürsorgliche Mann? Wie hatte er das übersehen können?
"Das Tagebuch kann Ihre Mutter aber nur zu Lebzeiten geschrieben haben. Deshalb ist das nur eine Vermutung von Ihnen", stellt Kommissar Klein klar.
"Da muss ich Ihnen widersprechen. Mein Adoptivvater hat meine Mutter offenbar lange bedrängt. Er wollte, dass sie meinen Vater verlässt und zu ihm zieht."
"Aber er war doch selbst verheiratet."
"Er wollte sich scheiden lassen für meine Mutter. Er war besessen von ihr."
"Das steht alles da drin?" Kommissar Klein winkt mit dem Tagebuch.
Helene nickt schwach.
"Das ist aber kein Beweis." Kommissar Klein ist enttäuscht.
"Doch! Es gibt einen klaren Beweis."
Helene holt noch etwas aus ihrer Tasche. Es ist ein Foto ihrer Mutter. Darauf trägt sie eine Kette mit einem Türkis-Stein, den Kommissar Klein nicht kennt.
"Sehen Sie diese Kette?"
"Ja."
"Sie hat diese Kette damals ständig getragen."
"Woher wollen Sie das wissen? Sie waren zwei Jahre alt."
"Ich habe einige Fotos aus dieser Zeit gefunden. Sie lagen alle in dem Karton, der meine Babysachen enthält."
Helene zieht weitere Fotos hervor.
Kommissar Klein sieht bestätigt, was die junge Frau ihm erzählt. Auf allen Fotos trägt Hilde Kort die Kette.
"Wo waren die Fotos all die Jahre?"
"Vermutlich in der Babykiste, die niemand vermisst hat."
Kommissar Klein ist fassungslos. Zwanzig Jahre später tauchen die Beweise auf, die er damals gebraucht hätte.
"Und was macht Sie so sicher, dass der Nachbar Ihre Mutter getötet hat?"
Helene zögert eine Weile, bis sie endlich antwortet: "Er trägt diese Kette. Und das schon seit vielen Jahren."
"Ich staune, wie schnell Sie den Mann ans Messer liefern, der sie großzügig aufgenommen hat."
Helene unterdrückt ein Schluchzen und spricht stockend: "Dieser Mann hat mich nur aufgenommen, weil er einen Ersatz für Hilde wollte."
Kommissar Klein verschlägt es die Sprache.
"Das Kind", sie reibt sich über den Bauch, "ist von ihm."
"Meine Güte! Wo ist er jetzt?"
"Er kommt mich gleich im Cafe um die Ecke abholen. Er ahnt nicht, dass ich ins Polizeipräsidium gegangen bin."
"Das haben Sie gut gemacht", lobt Kommissar Klein und erhebt sich von seinem Platz. "Worauf warten wir noch? Endlich werden wir den Mörder von Hilde Kort festnehmen."

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