Kurzkrimis

Sterne lügen nicht

Ein Astrologe begegnet einem berühmten Künstler, dessen Arbeit er schon lange bewundert. Umso mehr freut er sich, als dieser ihm einen Einblick in seine Arbeit gewähren will. Doch der Weg zum Ort seiner Kunstdarbietung führt ins Ungewisse. Verraten ihm die Sterne rechtzeitig, welche Absicht sich dahinter verbirgt?

Sterne lügen nicht

Das Treffen der besonderen Art

Was für ein Glücksfall! In meinem Stammlokal sitzt der berühmte Performance-Künstler Gildo Swonn. Seine Ausstellung mit dem Thema "Aussagen der konstruktivistisch geprägten Überlebenskunst des Menschen" sucht seinesgleichen. Der große, schlanke Mann tastet seine Jackentaschen eindeutig nach einem Feuerzeug ab.
Wortlos halte ich ihm meins vor die Nase.
Er entzündet seine Zigarette.
Meine Freude, diesen Mann persönlich anzutreffen, ist groß. Seine Kunst übertrifft alle bisher gekannten Maßstäbe. Sein Motto des Überlebens sticht jedem Kunstkenner ins Auge. Mit authentischen Materialien, die er nach eigener Aussage aus den OP-Sälen der Notfallkrankenhäuser entwendet, verleiht er seiner Kunst überzeugende Darstellungskraft.
Ich weiß alles über diesen Mann; er ist zu meiner Obsession geworden. Als Astrologe beschäftige ich mich schon eine Weile mit der Deutung seiner Sterne - in der Hoffnung, eine Antwort darauf zu finden, was diesen Mann so einzigartig macht.
Er sieht mir an, dass ich ihn erkenne.
"Darf ich mich revanchieren?", fragt Gildo Swonn. "Ich möchte Ihnen eines meiner Kunstwerke zeigen, das erst in der Entstehung ist."
Was für eine Chance. Da sage ich nicht Nein.
Gemeinsam verlassen wir das Lokal.

Der Weg ins Ungewisse

Die kleine Stadt ist umgeben von Natur. Nach nur wenigen Minuten gelangen wir in einen großen Stadtpark. Mit schnellen Schritten steuert der große Mann einen Trampelpfad an, auf den sich selten ein Mensch verirrt.
"Ich werde hier eine anorganische Plantage errichten. Ein dreidimensionales totes Gefäß inmitten lebendiger Natur. Es soll aus Glas bestehen. Durch Lichteinflüsse gelangt Lebendigkeit in die Innenräume, womit ich die Kunst des Überlebens übersinnlich darstelle."
Wir gern hätte ich ihm erzählt, dass ich Astrologe bin und mich ebenfalls mit dem Leben und dem Übersinnlichen beschäftige, aber Gildo Swonn lässt mich nicht zu Wort kommen.
Wir erreichen eine Lichtung.
Dort steht nichts. Keine Plastik, kein Glas, nichts.
"Wo soll Ihre neue Skulptur entstehen?", frage ich.
"Hier!"
"Aber ich sehe nichts."
"Ich sagte doch, dass dieses Kunstwerk sich erst in der Entstehungsphase befindet." Der Mann dreht sich im Kreis, richtet seinen Blick zum Himmel und fragt: "Was halten Sie von diesem Platz. Birgt er nicht alles, was ich für meine neue 'Enthumanisierte Überlebensdarstellung des Menschen' brauche? Licht, Schatten, Wärme, Luft, Leben... und den Tod." Er schaut mich an.
"Ich gebe zu, dass ich mich mit anderen Dingen besser auskenne", gestehe ich. "Zum Beispiel mit..."
"Das ist nicht nötig. Sie sollen mir nur Ihre Empfindungen mitteilen. Einfach nur aufzählen, was Ihnen gerade in den Sinn kommt."

Beklemmendes Gefühl

Ich schaue mich um, spüre nur Beklemmung. Die Lichtung ist klein. Die Bäume um uns herum ragen hoch in den Himmel. Hier eine Ausstellung zu planen, ist gewagt. "Glauben Sie wirklich, dass die Leute diesen beschwerlichen Weg auf sich nehmen, nur um Ihr neues Kunstwerk zu bewundern?"
"Das ist genau die richtige Frage. Es ist der Kampf des Überlebens, den ich darstelle. Inmitten der Menschen ist das Überleben kein Thema. Die Herausforderung besteht darin, die andere Seite darzustellen. Die Seite, die niemand sieht, die Abgeschiedenheit, das Ausgestoßensein, die Einsamkeit, die Hilflosigkeit, bis hin zum Tod - der wiederum nur als Warnprodukt unserer Fantasie existieren soll, da wir ja das Überleben symbolisieren."
"Wie wollen Sie diese vielen Gedanken in eine durchsichtige Plastik einbauen?"
"Sie haben ein kluges Köpfchen, junger Mann. Damit haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Genau bei dieser Frage habe ich auf Ihre Hilfe gehofft", jubelt Gildo Swonn, als hätte ich einen großartigen Beitrag geleistet.
"Natürlich bin ich ein kluges Köpfchen", murre ich unfreundlich. "Immerhin bin ich Astrologe..."
"Schauen Sie sich diesen Baumstumpf an", fällt Gildo Swonn mir schon wieder ins Wort. "Das ist die geeignete Basis. Hier steht der Überrest eines Baumes, das Symbol eines verlorenen Kampfes. Sie setzen sich bitte auf diesen Stumpf als das Sinnbild der Entschlossenheit."
Ich trete auf den Stumpf zu. Er ist sehr niedrig. Wenn ich mich darauf setze, bin ich winzig klein. Also stelle ich mich darauf.

Eine Falle?

"Sie sollen sich setzen", bittet Gildo Swonn. "Immerhin handelt meine Kunst vom Überleben, das nur dann bedeutsam wird, wenn es die damit verbundene Gefahr beinhaltet."
Die Augen des Künstlers leuchten. Sie schweifen von mir ab und bleiben an einem Gegenstand haften, den auch ich erblicke.
Jetzt weiß ich, welche Inspiration ich für Gildo Swonn sein soll.
Angespannt setze ich mich auf den Baumstamm.
Der Künstler umkreist mich mit langsamen Schritten.
Ich beobachte ihn genau. Er ergreift den Gegenstand, ohne anzuhalten. Geht langsam weiter. Als er direkt hinter mir steht, holt er weit aus. Ich werfe mich zur Seite, der dicke Stein zischt haarscharf an meinem Kopf vorbei.
Gildo Swonn verliert das Gleichgewicht. Er fällt genau in mein hastig gezücktes Messer hinein. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er mich an.
"Sie haben mich nicht ausreden lassen", rechtfertige ich mich.
"Darum töten Sie mich?", fragt er mit erstickter Stimme.
"Ich bin Astrologe und mindestens genauso berühmt wie Sie", antworte ich. "In Ihrem Horoskop gab es eine eindeutige Warnung für Sie, dass Ihre Sterne für heute nicht gut stehen. Und Sterne lügen nicht."

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