Tiefenpsychologie, Neurowissenschaften, Sozialpsychologie und Co. haben viel Licht
ins Dunkel der menschlichen Seele gebracht. Wer sich eigene Erkenntnisse vorurteilsfrei
erschließt, wundert sich zunächst über einige menschliche, allzu menschliche Eigenarten.
Aber er hat einen sehr großen Vorteil: Er geht bewusster mit sich selbst und anderen
um.
Die wichtigste Erkenntnis der erwähnten Wissenschaften lautet: Erwarten Sie in
Hinsicht auf Selbsterkenntnis und den "gesunden Menschenverstand" nie zu viel
von Ihren Mitmenschen. Bewusstheit entspricht nicht der menschlichen Natur.
Mangelhafte Einsicht in eigenes Fehlverhalten
Die meisten Menschen durchschauen die Auswirkungen ihrer eigenen Verhaltensweisen
nicht. Das sieht man zum Beispiel dann, wenn es um die Klärung von Konflikten
geht. Denn meistens ist es doch so, dass beide Parteien einander beschuldigen
und keinerlei Verantwortung übernehmen wollen. Es scheint so, als würden
beide Parteien ihre "weißen Westen" präsentieren. (Eheberater
wissen hiervon ein Lied zu singen.) Das kann natürlich nicht sein.
Daraus folgt: Achten Sie im Umgang mit Menschen darauf, ob ihre wichtigen Freunde
und Bekannten auch mal die Größe haben, eigene Fehler einzugestehen.
Das ist selten genug und daher sehr löblich! Solche Menschen hat man gerne
um sich.
Von sich selbst auf andere schließen
Extrem auffällig ist ein ganz niederträchtiger Mechanismus, der in der Psychologie
"externale Kausalattribuierung" genannt wird. "External" bedeutet: außerhalb.
Und Kausalattribuierung heißt: Ursachenzuschreibung. Das heißt, Gründe für eigene
fehlerhafte Verhaltensweisen, meistens moralische Vergehen, werden nicht selbst
verantwortet: Man schiebt die Ursache des eigenen(!) Verhaltens intuitiv auf die
"Aktionen" des Anderen.
Es wird angenommen, dass dieses - wahrscheinlich evolutionär verankerte - Phänomen
zunächst einmal deshalb existiert, weil es den Seelenfrieden weitgehend aufrechterhält.
Dummerweise besteht ein Zusammenhang zwischen der Häufigkeit der Aktivierungen
und der Selbstunkenntnis: Das heißt, je öfter jemand in ihrem Bekanntenkreis diesen
(unbewussten) Mechanismus an den Tag legt, desto mehr spricht das für ein labiles
Selbstwertgefühl und Selbstunkenntnis. In solchen Fällen sollte man sich die Ursachen
bewusst machen und die Sache (= ihn oder sie) nicht zu ernst nehmen.
Mangelhafte Kommunikationsfähigkeit
Zwischenmenschliche Verständigung ist sehr komplex und vielschichtig. Das
weiß nicht jeder. Kommunikationsexperten dürften ihre Köpfe im
Alltag oft schütteln, so irrational kommunizieren die meisten Menschen.
So sind zum Beispiel destruktive Du-Botschaften in Erziehung, Freizeit und Beruf
keine Seltenheit. "Du hast nix drauf!", "Du gehst fremd!",
"Du bist noch nie romantisch gewesen!" - solche Aussprüche
zwingen den Gesprächspartner dazu, sich zu wehren. Durch solche Sprüche
kann nie ein fruchtbares Gespräch entstehen. Und die Krönung des Ganzen:
Hinter solchen Sprüchen stecken eigentlich eigene(!) unbefriedigte Grundbedürfnisse!
Statt "Du hast nix drauf!" müsste es etwa heißen: "Ich
würde mir mehr Engagement von dir wünschen". "Du gehst fremd!"
bedeutet demgemäß: "Ich habe Angst, dich zu verlieren".
Und mit "Du bist noch nie romantisch gewesen!" wird eigentlich kommuniziert:
"Ich wünsche mir, dass du auf meine romantischen Bedürfnisse eingehst."
Reagieren Sie auf solche Du-Botschaften entwaffnend, indem Sie die dahinterliegenden
Bedürfnisse des Anderen erfragen und dann Kompromisse schließen.
Sich selbst und andere anflunkern
Die Selbstlüge ist nun aber sehr populär. Eigene Misserfolge kehren Menschen,
die ein schwaches Selbstbild haben, aber auch ganz normale Menschen, gerne unter
den Teppich. Die Psychoanalyse nennt dieses Bestreben "Rationalisierung".
Das heißt, die Kündigung, Scheidung, Niederlage beim letzten Flirtversuch - das
alles wird als "gar nicht so schlimm" hingestellt. Schließlich "war der Job eh
scheiße", der Partner "letztlich unpassend" und die Niederlage beim letzten Flirtversuch
eigentlich "ein Glück".
Starke Persönlichkeiten können demgegenüber ihre Frustrationen zulassen und verbalisieren.
Sie müssen nicht "herumeiern" und sich selbst und andere anlügen.
Spielball der Gefühle
Unsere Mitmenschen erleben im Alltag viele Stimmungen. Dummerweise merken die Betreffenden als Letzte, wie sie "eigentlich drauf" sind. Eigene Frustrationen werden infolgedessen in der Regel an den Anderen abreagiert. Die können zwar nichts für den eigenen Unmut, aber das macht nichts. Die Ursache dieses Mechanismus liegt in der Natur der Sache - unser Gehirn ist nicht für die Selbsterkenntnis, sondern für die Bewältigung des Alltags gemacht. Die dafür notwendige "natürliche Neigung zur Außenorientierung" macht auch in schlechten emotionalen Zeiten keine Ausnahme. Statt die innerpsychischen Geschehnisse wahrzunehmen, denken gestresste Menschen: "Die Anderen nerven mich!" Es geht ihnen wie dem Fahrer auf der Autobahn, der gerade im Radio vernimmt: "Falschfahrer auf der A6!" Er kontert: "Was!? Ein Falschfahrer!? Nur einer? Ich sehe hier einen - noch einen - noch einen!"
Der Andere hat nicht nur ein Ich
Wir alle haben mal unsere "fünf Minuten". Dann gibt es Momente,
in denen sind wir "ganz Kind", ein andermal sprechen wir wie "vernünftige
Erwachsene". All diese Facetten unserer Persönlichkeit - die
jeder Mensch hat - werden nicht als das wahrgenommen, was sie eigentlich
sind: nämlich sogenannte Teil-Persönlichkeiten. Der "Normalo"
ist der Auffassung, er hätte schlicht und einfach ein einziges Selbstbewusstsein.
Diese Sicht der Dinge ist schlicht und einfach falsch. Die Psyche eines jeden
Individuums besteht aus mehreren Facetten.
Würden wir uns das eingestehen und uns mal auf die Suche nach unserem "inneren
Team" machen (wie Friedemann Schulz von Thun sagt), würden wir endlich
ganze Menschen werden. Doch da dies naturgemäß niemand tut, sind die
meisten Menschen auch Spielball ihrer inneren Persönlichkeiten. Sie leben
nicht authentisch und gehen auch mit den Anderen mal "kindlich", mal
"erwachsen" um - ohne es zu merken!
Nehmen Sie sich selbst daher im Alltag bewusster wahr, dann können Sie auch
ihre wahren Bedürfnisse erkennen und darauf eingehen!
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